Ostberliner Fado

Op mijn verzoek heeft Ekkehard Mann een aantal fragmenten van ‘De Muur voorbij – Berlijnse fado’ vertaald in het Duits. Die fragmenten volgen hier.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Harrie Lemmens

Ostberliner Fado

Mit Fotos von Ana Carvalho

De Arbeiderspers, Amsterdam 2023

 

Inhalt

 

Vorbemerkung 11

  1. Erkundung 15
  2. Verbleib 36
  3. Abschied 226
  4. Rückkehr und Sehnen 227
  5. Fortsetzung 279

Erläuterungen zu den Fotos 298

Bibliographie 299

 

Vorbemerkung

 

Als ich geboren wurde, war Josef Stalin fast ein halbes Jahr tot. Nicht, dass beides etwas miteinander zu tun hätte, ebenso wenig wie es eine Verbindung zwischen mir, der Springflut, die Anfang desselben Jahres die Provinz Seeland heimsuchte, und dem Massenmörder aus Georgien geben dürfte. Aber man weiß ja nie, welchen Schabernack die Götter im Kasperletheater des Lebens mit einem treiben. Vielleicht saß ich mit achtundzwanzig Jahren tatsächlich wegen jener Ereignisse in einem Zug Richtung Stalins Erbe, Richtung Ostblock, weg aus den nasskalten Niederlanden, mit Ideen und Idealen im Kopf, die sich zwar zum Teil mit Marxens Theorien deckten, aber die entsetzlichen Wendemanöver der sowjetischen Politik verabscheuten.

In der letzten Gymnasiumklasse war ich noch felsenfest davon überzeugt, dass ich erstens bei Wahlen lebenslang den Kommunisten meine Stimme geben würde, obgleich ich mich – nach drei Jahren der Kasernierung in einem Internat (was jedoch eine andere Geschichte ist, in deren Verlauf ich viel über Regeln, Zucht, Ordnung und Strafe lernte) – in meinem Geburtsort Weert im August 1968 einer Demonstration gegen die russische Invasion in Prag angeschlossen hatte, meiner ersten überhaupt, auch der ersten in dieser Stadt, und dass ich zweitens meine langen Haare niemals abschneiden würde.

„Haha“, lachte mein Geschichtslehrer (ein Berufssoldat mit Motorroller), als ich ihm das verkündete, „haha, werde erst mal ein paar Jährchen älter.“ Ich wurde älter, erst fiel meine blonde Mähne der Schere zum Opfer, später veränderten sich meine politischen Sympathien. In Nimwegen gab es ein breites Spektrum an roten Gruppierungen links der Sozialdemokraten, von brav kommunistisch über engagiert pazifistisch, kleinbürgerlich-maoistisch bis hin zu extremsten Radikalinskis wie den Freunden der RAF. Der Ostblock jedoch galt in den Siebzigerjahren jedem rechtschaffend progressiv Gesinnten als pervers. In Lateinamerika wurde währenddessen jeder Versuch einer linken Wende von einer Militärjunta brutal unterdrückt. Nur Portugal bot Mitte des Jahrzehnts kurzzeitig Hoffnung auf etwas ganz Neues, was alle strikt alternativen und anarchistisch angehauchten Linken begrüßten. Aber auch die Nelkenrevolution enttäuschte bald. Es folgte ein Umschlag ins Nabelstarren, in Glücksucherei und in eine Flut von Gesprächsgruppen über abwegigste Bewusstseinsformen und soziale Benachteiligung – Ausgrenzung würde das heute heißen. Und quer durch dieses Spektrum schwirrten Umweltaktivisten, Feministinnen und Hausbesetzer.

Meine Reise nach Ostberlin Anfang Oktober 1981 – nach dem Tipp eines Niederlandistik-Kommilitonen, dass eine Übersetzungsagentur in Ostberlin einen niederländischen Muttersprachler suche – war also weder eine ideologische Entscheidung für den „real existierenden Sozialismus“ noch beabsichtigte ich, den dortigen Dissidenten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Nein, ich sehnte mich danach, den trüben Meinungsstreit hinter mir zu lassen und etwas anderes in Angriff zu nehmen, auch wenn mir von Vornherein klar war, dass die DDR nicht das Paradis ist. Mit anderen Worten, ich fuhr unvoreingenommen Richtung Mauer, nicht, um nur einen Blick hinüber zu werfen, sondern ich wollte mich aus Neugier freiwillig dort eine Weile einsperren – natürlich in der Gewissheit, jederzeit durch den antifaschistischen Schutzwall, wie die ostdeutsche Bezeichnung für das schreckliche Bauwerk lautete, in den Westen zurückkehren zu können.

Und nach einer gut einwöchigen Erkundung vor Ort stellte ich fest, dass es die Mühe lohnen würde, dort etwas länger zu bleiben. Dank der unvorhersehbaren Fügung der Götter führte dieser Aufenthalt letztendlich zu mehr als hundert von mir aus dem Portugiesischen ins Niederländische übersetzten Romanen und Lyrikbänden, zu zwei eigenen Büchern, „Gott ist ein Brasilianer“ und den Stadtgeschichten „Licht auf Lissabon“, zu einer Zeitschrift für Lusitanische Literatur, dem Zuca-Magazine, und zu sonstigem Glück. Wie es dazu kam, können Sie hier vollkommen wahrheitsgetreu nachlesen, mit dem einzigen Vorbehalt, dass den Worten „vollkommen“, „wahr“ und „getreu“ nicht nur in der Belletristik, sondern auch in der Erinnerung immer und überall misstraut werden sollte. Sie sind also gewarnt.

 

  1. Erkundung
  2. 16-21 (gekürzt)

 

Mit der S-Bahn zur anderen Seite der Mauer. Am Grenzübergang im Bahnhof Friedrichstraße steht eine entmutigend lange Reihe Menschen. Schelten und Murren, wenn jemand einfach durchgehen darf. Auch Angst und Unwissenheit auf den Gesichtern derjenigen, die offensichtlich das erste Mal nach drüben wollen. Als ich nach mehr als einer Stunde den Wartezirkus und die prüfenden Blicke hinter mir habe und mich umblicke auf der Suche nach Herrn H. (den ich nicht von Angesicht kenne), spricht mich derjenige, den ich in Verdacht hatte, an: Er ist es. Warum ich in der Schlange gestanden habe, fragt er. Ich hätte einfach durchlaufen können.

Er nimmt mich mit nach Unter den Linden, nicht weit vom Bahnhof, wo ich für die elf Tage meines Aufenthalts eine im Stil der Sechzigerjahre möblierte Einzimmerwohnung zugewiesen bekomme. Wenn ich mich genügend weit aus dem Fenster lehne, habe ich links einen Blick aufs Brandenburger Tor, rechts auf den Fernsehturm. Am Gebäude gegenüber geht ununterbrochen in Stein gemeißelt die Sonne der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, auf, „Vorwärts zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin“ steht darunter in erhabenen Riesenbuchstaben. In dieser Straße wohnen zu dürfen, ist natürlich ein Privileg, außerdem ist es von hieraus nicht weit bis zur Übersetzungsagentur.

„Bis später”, sagt mein Gastgeber. Selbst muss ich mich erst einmal bei der Ausländerbehörde hinterm Alexanderplatz anmelden. Der Spaziergang dorthin, erst Unter den Linden entlang und danach in der Verlängerung durch die Karl-Liebknecht-Straße, führt mich an vielen restaurierten alten Gebäuden und an einem überraschend modernen Bau dem Dom gegenüber vorbei zum berühmten Platz von Alfred Döblin, wo Franz Biberkopf herumstrolchte. Nichts erinnert an die Zwanzigerjahre, alles ist neu. Logisch natürlich. Hundert Meter weiter geht das Anmelden schnell, trotz des ziemlich umfangreichen Formulars, das ich ausfüllen muss.

Die Übersetzungsagentur Intertext befindet sich nahe dem Checkpoint Charlie in einer Straße mit dem passenden Namen Mauerstraße. Zum ersten Mal ist die Mauer für mich fast in Griffweite. In der Fassade sind noch immer Einschusslöcher von vor vierzig Jahren zu sehen.

Herr H. wartet beim Pförtner und nimmt mich, nachdem ich erneut ein Formular ausgefüllt habe, mit nach oben. Auf der Treppe kommt uns eine kleine junge Frau mit langen kastanienbraunen Haaren entgegen. Wir nicken uns zu. „Das war Ana Tavares, unsere Portugiesin”, sagt Herr H. als wir vorbei sind und ich denke mit einem bisschen Wehmut an den Sommer 1980 zurück, als ich in Évora am Rand des Schwimmbades meinen Geburtstag mit kommunistischen Tagelöhnern und trunken machendem Bagaço feierte und später aufs Geratewohl durch Lissabon streifte, ohne mich sonderlich darum zu kümmern, was von mir als Tourist erwartet wurde.

Der Betriebsleiter, Herr S., erzählt mir, was für Art Arbeit auf mich wartet. Es geht vor allem um das Übersetzen ins Niederländische von Broschüren über Auf- und Abrüstung, von Verlautbarungen, Tagungsberichten und Reden, in denen der Standpunkt der DDR und der anderen Warschauer-Pakt-Staaten dargelegt wird. Außerdem geht es um allgemeinere Broschüren, die auf Fragen über das Leben in der DDR Antwort geben. Alles bestimmt für die Freunde der DDR in den Niederlanden und Flandern als Material für ihre informativen (propagandistischen?) Aktivitäten.

Hart arbeiten wird es, schuften, denn der Werktag beginnt schon halb acht und endet um fünf Uhr, mit vierzig Minuten Pause. Nicht wirklich attraktiv. In der kommenden Woche soll ich auf Schnelligkeit und Exaktheit getestet werden. Ich darf etwas später beginnen und erhalte pro Tag vierzig Mark. Der nächste Tag ist gleich frei, weil es der 7. Oktober, der Nationalfeiertag, ist. Mit Militärparade und vielen Festveranstaltungen. Das klingt schon besser.

Der Tag der Republik beginnt mit Regen, Wind und Kälte. Als ich um elf auf die Straße gehe, zieht der letzte Rest der Parade an den Linden entlang ab. Ein kleiner Junge winkt einem Soldaten auf einem Panzer zu, der Soldat winkt ausgiebig zurück, niemand sonst reagiert. Es sind viele Menschen unterwegs, überall hängen und laufen Fahnen. Viele Stände mit Wurst, Bier und Erbsensuppe rund um den Fernsehturm. Am Rosa-Luxemburg-Platz komme ich beim Eingang der Volksbühne mit einem älteren Mann ins Gespräch, der dort unverkennbar eine Aufgabe zu erfüllen hat, obwohl mir nicht klar ist, welche. Er habe im Krieg in Nimwegen gedient. Ist nicht zufrieden, wie es in der DDR zugeht, aber will auch Westdeutschland nicht. Viel Arbeitslosigkeit dort: „Die Gastarbeiter müssen weg aus Europa, so dass die eigenen Leute eine Stelle finden können.“ Aha. Ich zeige auf ein Kino, Babylon, schräg gegenüber, und frage, was für Filme in der Stadt so alles zu sehen sind. Spiel mir das Lied vom Tod sei im Augenblick der Kassenschlager. „In den großen Kinos laufen amerikanische Filme immer gut, dafür stellen sich die Leute gern an. Aber nicht hier im Babylon, hier laufen nur die besseren Filme“, sagt er etwas spöttisch.

  1. Verbleib
  2. 36-39 (gekürzt)

Ich bekomme nicht, wie versprochen, eine Wohnung Unter den Linden, sondern werde bei einer Familie in Biesdorf einquartiert, rund zehn Kilometer vom Zentrum entfernt. Ein kleines Zimmer von vier mal zwei Metern, bei – anders kann ich ihn nicht nennen – einem kleinbürgerlichen Schlitzohr, der nur an Westsachen interessiert ist. „Könnten Sie mir vielleicht einen Farbfernseher besorgen?“, ist einer der ersten Sätze, der aus dem Munde von Herrn Taubenheim kommt. Der Name hätte kaum passender sein können: In diesem Taubenschlag bleib ich nicht.

Von Biesdorf bis Intertext brauche ich mit dem Bus fast eine Stunde. Herr H. wird das Opfer meines Zorns, obwohl er natürlich auch nichts daran ändern kann. Erst in einer Woche sei klar, ob ich wieder Unter den Linden einziehen könne. Ich vereinbare mit ihm, schon morgen mit der Arbeit zu beginnen und schlendre durchs Stadtzentrum, melde mich bei der Polizei an, trinke Kaffee in einer teuren, schicken Gaststätte am Alexanderplatz, wo eine Dame zu den Klängen eines gedämpft klimpernden Pianisten einen Wagen voller Gebäck zwischen den Tischen hindurchmanövriert, als ob wir im Intercity von Amsterdam nach Maastricht sind.

Es ist eiskalt. In einer Eckkneipe in der Nähe lungert ein genialischer Suffkopp herum, der eine biedere westdeutsche Familie belästigt. Der schon ältere Familienvater zuckt nervös mit dem Mund und es gelingt ihm schließlich, ihn los zu werden. Mein Heimweg ist lang.

Von Arbeiten kann noch nicht wirklich gesprochen werden, erst ist noch eine Menge zu erledigen. Ich kann meine Sachen beim Zollamt abholen mit einem Betriebswagen, gesteuert von Frau A., die mit ihrer sechsjährigen Tochter in einem Zimmer mit Küche in der Frankfurter Allee wohnt. Sie verdient sechshundert Mark, weniger als ihre männlichen Kollegen (wo bleibt die sozialistische Gleichberechtigung?). Ihr Ideal sei, gemeinsam mit ihrem Ex-Mann ein Taxiunternehmen zu beginnen. Aber die Chancen sind nicht rosig und daher will sie am liebsten weg, in den Westen.

Silvester. Raus aus Biesdorf. In einem Café in der Karl-Liebknecht-Straße serviert man keinen Kaffee, es wird also Bier. Schwindelgefühl. Bei mir am Tisch (man darf sich seinen Platz nicht selbst aussuchen) sitzt ein langhaariger junger Mann mit vor sich einen Gedichtband. Als ich etwas sage, ist er zunächst spröde und abweisend, aber ein Gespräch kommt doch in Gang. Er studiert Philosophie in Leipzig, einer Stadt, die ihm nur mäßig gefällt: viel Industrie und ein sehr beschränktes Ausgangsleben. Das Hochschulsystem sei starr, weil bestimmte Leute seit Jahren an ihren Stühlen kleben. Eine echte Diskussion finde nicht statt, Dozenten würden Epigonen und die parteioffiziellen Lesarten der Philosophen nachschwafeln. Dennoch sehe es danach aus, dass sich etwas verändern könnte, dass alles offener werde, mehr Grundlagenforschung möglich sei, dass nicht alle Zeit für die Lehre draufgeht, sondern mehr Wissenschaftler für die Forschung freigestellt werden. Aber so weit sei es noch nicht, er wolle erst einmal sein Ästhetikstudium abschließen.

Eigentlich sei Berlin seine Stadt, hier wurde er geboren, hier lebten seine Verwandten, hier kenne er auch das Studentenleben. Musik hören, einfach ausgehen, Leute treffen. Als er aufsteht – er muss seinen Zug nach Leipzig holen – gibt er mir sein Buch, Training des aufrechten Gangs von Volker Braun. Ich laufe ein Stück mit ihm mit. Nahe bei einem anderen Café, dem Posthorn, wo punkige Jugendliche hocken, kommen zwei leicht angetrunkene Freunde von ihm auf uns zu, J. und S. Als sie hören, dass ich Silvester in Biesdorf verbringen muss, laden sich mich zu einem Fest bei ihnen zu Hause in der Schwedter Straße im Prenzlauer Berg ein. „Ja, mein Sehnen“, lese ich bei Volker Braun:

 

Ja, mein Sehnen geht ins Ferne

Wo ich heitre Dinge treibe.

Doch bestimmen mich die Sterne

Daß ich fest am Boden bleibe.

Und so gern ich mich erhebe

Zieht mich eine Last nach unten

Eingenäht in mein Gewebe

Hat sie ihren Ort gefunden.

 

Ein typisches Berliner Mietshaus mit Hinterhöfen, heruntergekommen, schmutzig, finster. Ich laufe auf den Lärm zu und gelange in einen Raum, in dem sich Menschen unterhalten und ausgelassen zu den Stones tanzen. S. ist voll wie eine Haubitze, J. erkenne ich zunächst nicht. Ich spreche mit dem einen und andern. G., ein freiberuflicher Grafiker, sagt, er besuche nachmittags immer eine Espressobar in der Friedrichstraße, wo viele Journalisten und ähnliche Leute abhingen. Danach mit jemand, der im hohen Norden des Landes, irgendwo bei Rostock, als Regisseur tätig sei und über Theater und die Möglichkeiten für etwas alternativere Aufführungen erzählt. Die seien leider bescheiden, weshalb er ebenso wie ein Freund versuche, einen Praktikantenplatz in Bochum zu ergattern, oder irgendwo anders im Ausland. Redend schwenkt er gefährlich eine Flasche Sprit, er ist bereits in einem fortgeschrittenen Stadium von Trunkenheit. Kein Wunder, merke ich, als er mir auch einen Schluck anbietet: Das Zeug rinnt mir ätzend durch die Kehle.

 

  1. 160-161 (gekürzt)

 

Mit Ana, J. und Miguel zum Blumenfest nach Weißensee. Während ich mich mit J. unterhalte und Ana für Miguel einen Luftballon kauft, läuft eine Gruppe Jugendlicher in Jeansuniform langsam und glotzend an uns vorbei. An ihrer Haltung ist abzulesen, dass sie uns am liebsten zusammenschlagen würden, aber es bleibt bei ein paar Sprüchen und beim Wackeln mit dem Hintern, um deutlich zu machen, dass wir in ihren Augen schwul sind und somit Prügel verdient hätten.

Das uniforme Denken (Uniformdenken?) voller fester Einteilungen und Vorurteile sitzt tief. Wer abweicht von der Gruppennorm hinsichtlich Kleidung oder anderer Kennzeichen, wird abgelehnt. Ich habe den Eindruck, dass die Aggressivität zunimmt, ich sehe viele mit einer Art Begier im Gesicht, einen Anlass zum Zuschlagen zu finden.

Im Bett höre ich draußen einen lauten Knall, der Übles vermuten lässt. Es war aber so schlimm nicht, denn auf der Straße liegen keine Toten oder Verletzten. Wenig später wird bei mir geklingelt, ich nehme an, dass es ein Korridornachbar ist und öffne. Vor der Tür steht ein mir völlig unbekannter Mann, der am Ende zu sein scheint, auf jeden Fall sehr kaputt wirkt und mich nach jemand fragt. Ich verstehe ihn nicht und als ich nachfrage, wird er wütend und droht. Erst nachdem ich die Tür zugeschlagen habe, überfällt mich die Angst, dass dies hätte schief gehen können.

 

Ana (Spaziergang 9 durch die Leipziger)

In meiner Zeit in der Mollstraße trieb sich oft eine junge Frau im Flur herum, klein, mager, unauffällig, kaum mehr als ein Schatten. Eine Studentin, vermute ich. Sie sprach Bewohner an, um bei ihnen eingelassen zu werden. Männer natürlich. Jeder wusste es und es wurde viel darüber getuschelt („da ist die wieder“). Auf einmal war sie verschwunden. Krank, etwas mit der Gebärmutter, raunte man. Nach ein paar Monaten war sie wieder da. Ich glaube, sie wollte ein „Visum“ in den Westen. Tragisch, was die Leute, vor allem Frauen, dafür übrighaben, hier wegzukommen. Ein paar Wochen später war es endgültig vorbei, ich habe sie jedenfalls nie mehr gesehen. Sollte es ihr gelungen sein, frage ich mich manchmal. Eigentlich seltsam, dass die Haustür immer offensteht. Jeder kann ungehindert ein- und ausgehen, während sonst ständig alles überwacht wird. Bei mir in Rummelsburg sitzt beispielsweise ein Portier in einer Kabine, ein Student, bei dem man sich melden muss, wenn man hineinwill. In der Mollstraße würde ich erwarten, dass der Hausmeister den Eingang beaufsichtigt. Vielleicht kneift er wegen der Ausländer absichtlich ein Auge zu. Um Dinge zu provozieren. Wer weiß. Hier ist, wie du weißt, nichts zu verrückt, wenn es um Bespitzeln geht.

 

  1. Rückkehr und Sehnen
  2. 259-260 (gekürzt)

 

Nimwegen, aus einem Brief an Ana:

 

Tage und Nächte vergehen, ohne sich groß zu unterscheiden. Kalt tagsüber, nachts eisig, und Arbeit. Die Blumen, die ich sehe, sind farblos, sie kleben morgens an den Scheiben und verschwinden unter meinem Atem oder nach dem Heizen. Ich friere, meine Seele friert und ich sehne mich nach der Wärme deiner Stimme vom letzten Sonnabend. Selbstgewählte Haftstrafe dafür, dich zu lieben. Durch die Umstände erzwungene Isolation, Fluch der Ferne. Ich habe Caetanos Chora tua tristeza aufgelegt und seine Trübsal ergreift auch mich. Tristesse wegen des ständigen Planenmüssens, jenes Wort, unser Los oder Geschick (Fado; als wir vor einiger Zeit – wann war es? – in Rummelsburg nach Amália lauschten, hast du mir erklärt, dass diese schöne, aber traurige portugiesische Musik ihren Namen von Schicksal hat, von fatum). Schicksal, das sich rücksichtslos in alles mischt, was wir tun, und uns so oft zwingt, unsere Beziehung zu „minutisieren“, in die wenigen Minuten am Telefon zu pressen. Wenn du das liest, hast du vermutlich eine gute Zeit in Porto und Lissabon verbracht (voller Leben auf den Straßen, wie du schreibst, was du im toten Berlin so arg vermisst) und konntest hoffentlich bei Verlagen einiges in Bezug auf unsere Zukunft erreichen. Aber vorläufig sitze ich hier fest und bist du wieder in Berlin, der Stadt des Schreckens und Grauens, der Stadt des Zwiespalts, der Stadt der tödlichen Lebendigkeit, der Stadt des Cabarets, wo die Seele auf der Haut stirbt, wo das Kaputte schon ein ganzes Jahrhundert die Norm für Freude und Überleben zu sein scheint. Die Stadt, die immer unterwegs ist und nie ankommt, wo die Sonne ein rotes Leuchten im Hinterhof ist – oh, wie liebe ich die Sonnenuntergänge in Berlin, wie viel sie auch drohen und töten. Auch ich bin ein Berliner und ich will mich davon lösen, ich suche das Befreiende des Südens – auch wenn das zu neuen Fesseln und Problemen führen sollte. Oder wie Freund Couperus schrieb: „Ich will atmen, leben, und das ist nur möglich im Süden.“

 

  1. Fortsetzung 2012
  2. 283-284

Laufen, immer nur laufen, auf der Suche nach verregneten Fußspuren. In die Friedrichstraße, am Bahnhof entlang, wo die behelmten Soldaten der Volksarmee noch immer sich schwarz abzuzeichnen scheinen gegen die verglasten Bogen der Bahnsteighalle. Unsichtbar inzwischen. Von Wirklichkeit zur Metapher geworden. Klischee. Doch seltsam wie das funktioniert: Wenn wir mit Leuten über unsere Ostberliner Vergangenheit reden, beginnen sie unweigerlich über Das Leben der Anderen zu sprechen, den Film aus dem Jahr 2006. „Großartig“, sagt jeder, und wenn wir entgegnen, dass wir den Film nur teilweise gut finden – zwar wird das ständige Beobachten und Überwachen, Abhören und Bespitzeln treffend und eindringlich dargestellt (oh, die tausend gespitzten Ohren, die tausend Augen, die man auf sich gerichtet fühlte!), aber wie kalt, grimmig, brutal und unmenschlich das Auftreten der Stasi auch immer war, bei Verhaftungen ging es doch durchweg subtiler zu, als in diesen Kopien des Naziterrors, was solche Erlebnisse noch böser und bitterer gemacht haben mag –, dann sehen sie uns ungläubig an. (Übrigens gilt für Nachtzug nach Lissabon Ähnliches hinsichtlich der Schilderung der PIDE, Salazars Stasi, und des portugiesischen Widerstands; auch die waren in Wirklichkeit nicht einfach dasselbe wie die Gestapo und der Widerstand gegen Hitler.) Das ändert nichts daran, dass das Bedrohliche in der DDR nicht selten tatsächlich die Form des Klischees annahm, wie etwa jene Soldaten auf ihrem Laufsteg hoch oben in der Bahnhofshalle oder die einschüchternden Kontrollen in den Transitzügen und an den Autobahnübergängen. Und Ana hat von ihren Fahrten nach Kopenhagen den Wechsel vom Zug auf die Fähre noch stets vor Augen: „Immer abends oder nachts. Dann wurde das komplette Programm geboten, Scheinwerferlicht und Dutzende Uniformen mit lauten, scharfen Befehlen und Gewehren im Anschlag. Und die Hunde! Die knurrenden und hechelnden Deutschen Schäferhunde, die mit ihren feuchten Geiferschnauzen an allem herumschnüffelten. Schauderhaft! Aber am schlimmsten war doch das eine Mal am Anfang, als ich im Zug von Leipzig nach Frankfurt saß und in Erfurt herausgefischt wurde. Ohne zu wissen warum. Die Minuten verstrichen und ich stand Todesängste aus, dass ich meinen Zug und somit auch mein Flugzeug nach Hause verpassen würde. Da hatte ich das Gefühl, in einem Nazifilm zu sein.“

 

Übersetzung Ekkehard Mann